Ein kleiner, beschaulicher Ort in der Nähe von Bremen. Zwischen Einfamilienhäusern, Höfen und Feldern steht ein hübscher Bungalow, verklinkert, Schindeln auf dem Dach, wie es in Norddeutschland so üblich ist. Ein großer Garten, ein unverbauter Blick auf die Wiesen und Felder dahinter, idyllisch und heimelig. Im Ort gibt es ein Schützenhaus, Hofläden, einen Badesee, sogar eine eigene Kaffeerösterei. 2017 hat Nils das Haus gebaut, in dem er zusammen mit seiner Freundin lebt und in dem wir uns heute zum Interview treffen. “Man muss hier eigentlich nicht weg, du bekommst hier fast alles”, sagt Nils, als wir gemeinsam eine Runde durchs Dorf drehen. Alle paar Meter ein herzliches “Moin!” - jeder kennt hier jeden, zumindest kennt jeder Nils.

Es ist ein schöner Frühlingstag im März, kalt, aber sonnig. Ein paar Wochen vorher ist Nils 41 Jahre alt geworden. Kein runder Geburtstag, aber für den schlanken jungen Mann mit Basecap und Hoodie ein besonderer Tag. Denn Nils hat Lungenkrebs. Eigentlich gaben ihm die Ärzte nur ein paar Monate - fast 2 Jahre ist das jetzt her. In ein paar Tagen stehen die nächsten routinemäßigen Untersuchungen an: Ein CT, um zu überprüfen, ob Tumorgewebe im Brustkorb zu sehen ist, ein Schädel-MRT, um nach Hirnmetastasen zu suchen, die bei Lungenkrebs verhältnismäßig häufig vorkommen. Nils ist jedes Mal angespannt, diesmal vor allem wegen des MRTs. “Ich habe im Moment relativ häufig Kopfschmerzen. Da fragst du dich schon: Ist da was?” Alle drei Monate muss Nils dadurch. Die Ungewissheit sei extrem belastend: Wirkt die zielgerichtete Therapie, die den Krebs bislang zuverlässig in Schach hält, noch? Und was, wenn nicht?

Wenige Tage nach dem Interview bekomme ich eine WhatsApp: CT und MRT sind unauffällig. Die Therapie, die sich zielgerichtet gegen die Mutation richtet, die den Krebs bei Nils antreibt, wirkt nach wie vor. Welche Rolle Forschung und Wissenschaft dabei spielen und warum es trotzdem ein großes Maß an Eigeninitiative brauchte, lesen Sie im Interview.

Q: Nils, du bist 41 und lebst seit fast 2 Jahren mit Lungenkrebs. Wie bist du zu deiner Diagnose gekommen?

Nils: Tatsächlich gibt es dazu zwei verschiedene Geschichten. Zum einen, wie ich zur Diagnose kam, und zum anderen, wie sie mir überbracht wurde. Das Ganze begann mit Rückenschmerzen, die erstmal über Monate vom Hausarzt behandelt wurden. Als das nichts brachte, habe ich darauf gedrängt, zum Facharzt überwiesen zu werden. Der Hausarzt zögerte zunächst, schickte mich dann aber doch zum Orthopäden. Er ordnete eine Röntgenaufnahme an, auf der allerdings nichts zu erkennen war – weder am Rücken noch sonst irgendwo. Rückblickend ist es verrückt, dass auch kein Tumor sichtbar war. Als Laie hätte ich das erwartet. Glücklicherweise veranlasste der Orthopäde aufgrund der unklaren Röntgenbilder ein MRT. Der Radiologe, der die MRT-Aufnahmen ausgewertet hat, hat mich trotz der schnellen Abwicklung nochmal zur Besprechung reingebeten und erklärte, wir hätten ein ganz anderes Problem als den Rücken. Über der Lunge liege eine Art Schneegestöber, das auf verschiedene Ursachen wie eine Pilzinfektion, eine verschleppte Lungenentzündung, eine Autoimmunerkrankung – oder eben Krebs hindeuten könnte. Er wollte dann zur Sicherheit noch ein CT machen.

Nach dem CT gingen die Vermutungen in Richtung Krebs oder Autoimmunerkrankung, doch man wusste immer noch nicht genau, was es ist. Ich sollte dann nochmal zur Bronchoskopie und zu weiteren Untersuchungen, die allerdings auch keine Auffälligkeiten zeigten. Wegen der Untersuchungen war ich ja bereits im Krankenhaus, und als nächster Schritt stand eine Probenentnahme vom Brustfell an.

Jetzt kommen wir zum zweiten Teil: Wie sage ich es dem Patienten? Denn das war ziemlich fatal. Ich bin aufgewacht, da hatte man an mir schon eine Pleurodese durchgeführt. Dabei werden Brust- und Lungenfell miteinander verödet. Das ist eine palliative Maßnahme, obwohl die Diagnose noch gar nicht gesichert war. Morphiumpumpe links, Drainage rechts und ein Arzt, der mir sagt, es sähe bösartig aus, ich solle meine Angelegenheiten regeln und nochmal in den Urlaub fahren. Ach, und freitags sei leider auch kein Psychoonkologe mehr im Haus. Am Ende stand dann die Diagnose Pleurakarzinose durch ein nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom, das ins Brustfell, also die Pleura, gestreut hatte und eine Prognose von wenigen Monaten.

Ich bin also ziemlich holprig zur Diagnose gekommen.

Q: Du hast also freitags die Diagnose erhalten. Was ist danach passiert?

Nils: Ehrlich gesagt, waren Freitag und Samstag ziemlich intensive Tage für mich. Von tiefer Traurigkeit, über die Planung meiner Beerdigung bis zum Überlegen, wer was erben soll – das ging mir alles durch den Kopf. Ich kam ja mit dem Gefühl in die Klinik, noch alles vor mir zu haben. Nicht mit dem Bild eines Tumors und drei, vier Monaten, die mir noch bleiben sollten, sondern eigentlich nur mit Rückenschmerzen und dem Wissen, dass die Bilder keine eindeutigen Antworten liefern. Dass es sich um Lungenkrebs handeln könnte, kam für mich eigentlich gar nicht infrage. Das musst du erstmal verarbeiten. Nach dem Tief kam aber auch gleich ein Hoch, wo ich dachte: Ne, das kann ich so nicht hinnehmen, da muss nochmal jemand anderes drüber gucken!

Also habe ich meine Krankenakte angefordert, sie digitalisiert und an führende Thoraxchirurgen geschickt. Das muss Samstag, also ein Tag nach Diagnose gewesen sein. Ich dachte, irgendjemand muss das doch operieren können, obwohl mein Krebs eigentlich ein Job für den Onkologen war. Einige Ärzte, die ich angeschrieben hatte, haben sich sogar übers Wochenende zurückgemeldet – das hat mich wirklich beeindruckt.

Ein Arzt meldete sich noch am Sonntag und sagte, dass da noch einige Untersuchungen fehlen würden, z.B. ein PET-CT, Mutationsanalyse usw. Er betonte, ohne diese Diagnostik könnte er doch gar keine Entscheidung zur weiteren Behandlung treffen. Für mich ergab absolut Sinn, was er sagte. Also habe ich mir nochmal eine Zweitmeinung eingeholt.

Q: Und die Zweitmeinung war der Wendepunkt für dich?

Nils: Genau, insbesondere die molekulargenetische Untersuchung meines Tumorgewebes, die etwas verspätet vom ersten Krankenhaus veranlasst wurde. Ich bin dann erst bei meiner neuen Ärztin darauf aufmerksam gemacht worden, was es bedeuten würde, wenn man diese und jene Mutationen finden würde. Und tatsächlich wurde eine Mutation gefunden, die den Krebs bei mir antreibt. Meine Ärztin hat mich ausführlich aufgeklärt, was das alles bedeutet. Sie sagte, sie hätte Patienten, die damit schon fünf Jahre leben – das klingt natürlich anders als drei oder vier Monate. Das war ein wahnsinniger Aha-Effekt, ein regelrechter Motivationsschub. Ich kannte vorher nur Operation, Chemotherapie und Bestrahlung – alles keine rosigen Aussichten. Mit der Mutationsanalyse war das erstmal alles vom Tisch. Es war sofort klar, welches Medikament ich dann bekommen würde und das mir damit auch eine Chemotherapie erstmal erspart bleiben würde. Unsere Apotheke konnte die Tabletten auch relativ schnell besorgen. Das alles hat bei mir den Schalter umgelegt, unbedingt über die Erkrankung sprechen zu wollen. Denn was ist, wenn da jemand wie ich sitzt, der sich keine Zweitmeinung holt?

In seinem Podcast “ ” spricht Nils über seine Erkrankung, informiert und diskutiert über Therapien, Diagnostik und den Umgang mit der Diagnose.

Q: Nicht jede Patientin und jeder Patient hat aber eine genetische Veränderung, die sich, wie bei dir, zielgerichtet behandeln lässt.

Nils: Das stimmt, aber diese Patienten könnten z.B. auch für eine Immuntherapie in Frage kommen, aber auch darüber wurde ich nicht aufgeklärt. Mir wurde eher gesagt: "Vielleicht probieren wir noch eine Chemo und schauen dann weiter." Dabei gibt es so viele innovative Behandlungsmethoden und Studien. Dass es State-of-the-Art-Onkologie gibt, kam gar nicht zur Sprache.

Jeder Krebspatient hofft doch darauf, dass, wenn Plan A nicht funktioniert, es noch Plan B, C und D gibt. Vielleicht eine Studienteilnahme, eine Immuntherapie oder die Prüfung auf spezifische genetische Veränderungen. Es ist einfach wichtig, alles genau zu untersuchen, um dann eine fundierte Entscheidung über die Behandlung treffen zu können. Kein Patient möchte hören: "Wir versuchen es mit Chemo und wenn das nicht funktioniert, dann ist es vorbei." Jedenfalls nicht, ohne alle Möglichkeiten vorher ausgelotet zu haben. Meine jetzige Ärztin hat die Sache ganz anders dargestellt: Es gibt Option A, B und C, und weitere Möglichkeiten, falls die nicht greifen sollten. Das vermittelt ein völlig anderes Gefühl, selbst wenn bestimmte Ansätze aufgrund fehlender Mutationen oder eines bestimmten Status nicht möglich sind. Aber es gibt immer noch andere Wege, wie etwa eine Strahlentherapie. Das wichtigste ist, dass man Optionen hat, dass man etwas tun kann.

Q: Aus deiner Perspektive: Was bedeutet medizinische Forschung und Wissenschaft für dich? Hattest du zu dem Thema schon vor deiner Diagnose einen Bezug?

Nils: Ich fange mal mit dem letzten Teil deiner Frage an. Nein, eine direkte Beziehung hatte ich vorher nicht zu dem Thema. Natürlich habe ich medizinische Forschung immer bewundert und verfolgt, besonders bei Krebsthemen, da meine Uroma und Oma an Krebs gestorben sind und meine Tante auch an Krebs erkrankt ist. Deshalb war das Interesse immer schon da. Man hat sich natürlich gefragt: “Hätte es Therapien gegeben, die meiner Oma hätten helfen können?” Ich habe früher also die Nachrichten dazu verfolgt, aber nicht unbedingt aktiv danach gesucht. Das ist heute natürlich anders. Heute bedeutet Forschung für mich Hoffnung und Lebenszeit. Wenn jetzt beispielsweise Fortschritte bei den CAR-T-Zellen, zielgerichteten Therapien oder Krebsimpfungen gemacht würden, die aus meiner palliativen und unheilbaren Situation eine heilbare machen könnten, wäre das alles für mich. Forschung ist mein Strohhalm.

Q: Forschung und Wissenschaft ist also mittlerweile ein existenzielles Thema für dich?

Nils: Genau, aus einem ‚Ja, ganz interessant!‘ ist die große Hoffnung geworden, weiter existieren zu können. Zu beobachten, was in der Forschung passiert, ist also zu einem zentralen Punkt meines Lebens geworden.

Q: Forschung ist datengetrieben - wie stehst du als Patient dazu, z.B. Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken zu teilen?

Nils: Richtig, Behandlungs- und Gesundheitsdaten zu teilen gehört dazu. Aus der Patientenperspektive stehe ich diesem Austausch sehr offen gegenüber. Ich habe zum Beispiel eine häufig auftretende Mutation, EGFR, die lungenspezifisch ist, aber auch meine Keimbahnmutation BRCA2 könnte von Interesse sein. Denn sie ist ebenfalls mit verschiedenen Krebserkrankungen assoziiert. Gibt es vielleicht schon Erfahrungsberichte oder Studien von Patienten mit derselben Kombination? Könnten Medikamente, die bei anderen Tumorarten aufgrund der BRCA2-Mutation wirksam sind, auch uns Lungenkrebspatienten helfen? Durch den Austausch dieser Daten, die in kompetente Hände gelangen, eröffnen sich für mich und andere Betroffene vielleicht neue Möglichkeiten. Man muss den Menschen natürlich vermitteln, dass ihre Daten pseudonymisiert oder anonymisiert behandelt und entsprechend sorgfältig geschützt werden.

Q: Als du tiefer in die Themen wie molekulare Diagnostik und Präzisionsmedizin eingetaucht bist, warst du überrascht, was medizinisch und diagnostisch heute schon möglich ist?

Nils: Absolut. Die Erkenntnisse aus der Genanalyse und die sich daraus ergebenden Behandlungsmöglichkeiten fand ich einfach genial. Für mich war das überlebenswichtig und mir hat das wirklich Hoffnung gegeben. Und es ergab für mich absolut Sinn, die genetischen Grundlagen zu kennen. So wie ich auch beim PET-CT dachte, es macht Sinn zu wissen, wo der Krebs lokalisiert ist und wie weit er fortgeschritten ist. Ich dachte damals noch, das ist jetzt wirklich etwas völlig Neues. Aber mein Medikament gibt es bereits in der dritten Generation - schon seit fünf Jahren! Ich hatte aber trotzdem bis dahin von niemanden gehört, der eine solche zielgerichtete Therapie bekommen hat. Die meisten Krebspatienten, die ich kannte, wurden nur mit Chemotherapie oder Strahlentherapie behandelt. Ich hoffe natürlich jetzt auf das nächste Medikament, die nächste Therapiemöglichkeit - auf die Forschung!

Q: Bei dir lief der Weg zur Diagnose und Therapie nicht optimal. Was wünschst du dir für andere Patient:innen? Was würdest du ihnen raten?

Nils: Das Beste wäre natürlich, wenn Patienten ganz automatisch eine qualitativ hochwertige Versorgung bekämen. Also zum Beispiel automatisch an ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden, das erstmal alles Notwendige in die Wege leitet. Sodass man sich als Patient in dieser Extremsituation nicht noch selbst schlau machen muss – so wie’s bei mir der Fall war. Denn da hast du eigentlich ganz andere Sachen im Kopf und müsstest dich eigentlich mehr auf den psychologischen Aspekt konzentrieren. Kriege werden im Kopf gewonnen, die Einstellung macht ganz viel aus. Wenn du dich aber mit Fragen wie "Habe ich wirklich alles getan? Wurde etwas übersehen? Muss ich noch zusätzliche Unterstützung organisieren?" beschäftigen musst, hast du noch zusätzliche Sorgen, obwohl du dich doch eigentlich darauf konzentrieren willst, diesen Kampf zu gewinnen - ohne sich noch um alles andere Sorgen machen zu müssen.

Wichtig ist, dass Krankenhäuser und Kliniken, die keine Mutationsanalysen durchführen oder durchführen können, die nicht über die neuesten Techniken verfügen, die nicht nach aktuellen Standards behandeln können, ihre Krebspatienten an diese Zentren verweisen. Es ist ein Aufruf an die Ärztinnen und Ärzte, konsequent zu handeln, wenn sie auf solche Fälle treffen. Mein Überleben darf nicht davon abhängen, ob ich neben einer Uniklinik oder einem Kreiskrankenhaus lebe, das kann nicht sein.

Autor

Fabian Bockholt
Communications Manager

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