Deutschland, einig … Pharmaland?!
Innovations- und Exportstärke der deutschen Pharmaindustrie: Die Prognos-Studie 2023
Wer hierzulande nach einer typisch deutschen Leitindustrie mit hoher Innovationskraft und Wertschöpfung gefragt wird, denkt vermutlich zuerst an die Autoindustrie oder den Maschinenbau. Klar, schnelle, schöne und zuverlässige Autos, damit kann jeder etwas anfangen. Fast jeder fährt eines und jeder weiß um die Marken, die zwischen Wolfsburg und München vom Band rollen.
Was kaum jemand weiß: Es laufen noch ganz andere Hightech-Produkte über die Fließbänder der Republik. Von Medikamenten, die verhindern, dass Menschen erblinden, über Arzneimittel, die Krebspatient:innen länger leben lassen oder sogar heilen, bis zu neuartigen Gentherapien, wird zwischen Hamburg und München fast alles erforscht und produziert, was moderne Biotechnologie und pharmazeutische Forschung hergeben. Ist Deutschland also nicht nur Auto-, sondern auch Pharmaland? Ein Blick auf die Zahlen!
Exportmotor pharmazeutische Produkte
Deutschland lebt vom Export. Produkte, die hier produziert werden, gehen in alle Welt und sichern maßgeblich unseren Wohlstand. Aber es gibt Unterschiede: Während einige Branchen Produkte exportieren, für die bereits ein großer Teil der Vorleistungen im Ausland erbracht wird, gibt es andere, die das meiste tatsächlich “made in Germany” erledigen. Wird ein Produkt aus im Ausland produzierten Teilen in Deutschland nur noch zusammengebaut oder gar verpackt, entsteht hierzulande wenig Wertschöpfung. Die Arbeit wird eben zum Großteil nicht hier erledigt. Andere Branchen produzieren dagegen fast ausschließlich hier. Vorprodukte und Vorleistungen kommen aus Deutschland, hier liegen die dafür notwendigen Arbeitsplätze, hier bleibt das Kapital. Wertschöpfungsintensiv nennt das der Volkswirt. Besonders wertschöpfungsintensiv: Die pharmazeutische Industrie. Ihre Wertschöpfungsintensität liegt insgesamt bei 78 Prozent, noch vor dem Maschinenbau und der Autoindustrie.1
Die exportierte Bruttowertschöpfung der pharmazeutischen Industrie beläuft sich auf fast 40 Mrd. Euro pro Jahr.1 Mit diesen Exportüberschüssen sichert sie damit direkt und indirekt* in Deutschland weit über eine Viertelmillion meist hochqualifizierter Arbeitsplätze.1
Was versteht man unter direkten oder indirekten Effekten?
* Direkte Effekte
Die direkten Effekte beschreiben die unmittelbaren Auswirkungen einer Branche auf die deutsche Volkswirtschaft. Sie können sich auf den Beitrag einer Branche zum gesamtwirtschaftlichen Produktionswert, zur Bruttowertschöpfung oder auch auf die Anzahl der Erwerbstätigen beziehen.
Indirekte Effekte
Die Produktionstätigkeiten einer Branche erfordern Vorleistungsgüter. Der Bezug von Vorleistungsgütern führt wiederum zu einer erhöhten Produktion bei Lieferant:innen, welche ihrerseits wiederum Vorleistungsgüter für ihre Produktionsprozesse nachfragen. Die daraus entstehenden Effekte (z. B. Beschäftigung) werden indirekte Effekte einer Branche genannt.
Kein Selbstläufer: National Spitzenreiter, international nur Mittelfeld
Die gute Nachricht: Die industrielle Gesundheitswirtschaft hat nicht nur eine hohe Wertschöpfungsintensität, ihre Exporte wachsen im Vergleich zu anderen Branchen auch deutlich stärker. Zwischen 2010 und 2022 legten sie um 55 Prozent zu - während die der Autoindustrie und des Maschinenbaus etwa um 33 bzw. 16 Prozent zulegten.1 Mit einem stabilen, überproportionalen Wachstum, auch in wirtschaftlich unruhigen Zeiten, trägt die pharmazeutische Industrie so zur gesamtwirtschaftlichen Stabilität bei.
Kein Grund zur Sorge also? Schaut man auf die deutschen Zahlen, scheint die pharmazeutische Industrie also gut dazustehen. Im internationalen Vergleich - und der ist, wenn es um Investitionen, neue Standorte, Arbeitsplätze und Co. geht, maßgeblich entscheidend für global agierende Unternehmen - sieht die Sache dagegen etwas anders aus. In anderen Ländern, etwa Japan, den USA, der Schweiz oder Irland, aber auch in Indien und China entwickeln sich die Wertschöpfungsexporte deutlich dynamischer als hierzulande.1
Forschung: Wir stellen uns selbst ein Bein
Insbesondere in der forschenden pharmazeutischen Industrie heißt das Geschäftsmodell “Innovationen”. Ein neues Produktdesign, eine neue Rezeptur, die nächste Kollektion oder das leicht überarbeitete Nachfolgemodell - so funktioniert Pharmaforschung in den seltensten Fällen. Ein Großteil des Geschäfts besteht aus Entwicklung und jahrelanger Erforschung neuer Moleküle - von denen ein Großteil im Laufe der Entwicklung scheitert. Das ist risikoreich, die Forschungsausgaben sind enorm - und sie steigen Jahr für Jahr weiter. Aktuell reinvestiert die pharmazeutische Industrie jeden fünften Euro ihrer Bruttowertschöpfung in Forschung und Entwicklung.
Die Investitionen scheinen sich auszuzahlen, denn auch die absolute Anzahl angemeldeter Patente steigt im pharmazeutischen Bereich. International betrachtet, fallen wir aber auch hier deutlich zurück. Hatte Deutschland 2010 noch einen Anteil von rund 6 Prozent an allen weltweit angemeldeten Pharmapatenten, lag er 2020 nur noch bei etwa drei Prozent.1 Kurz: International verliert der Standort Deutschland deutlich an Bedeutung.
Das liegt einerseits an aufstrebenden Standorten wie etwa China, ist aber bei Weitem nicht der einzige Grund, denn insbesondere bei der klinischen Forschung stellen wir uns selbst ein Bein - und zwar gleich an mehreren Stellen.
Der Bürokratie-Wirrwarr
Will ein Unternehmen in Deutschland ein neues Arzneimittel in einer klinischen Studie erforschen, muss es sich mit 49 verschiedenen Ethikkommissionen5 mit uneinheitlicher Bewertungspraxis auseinandersetzen. Datenschutzrechtliche Prüfungen obliegen wiederum den 16 Landesbehörden.2 Auch hier gilt: Bewertungspraxis? Heterogen! Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte oder das Paul-Ehrlich-Institut sind als zuständige Bundesoberbehörden ohnehin involviert. Sind aber Untersuchungen angedacht, die eine strahlenschutzrechtliche Genehmigung erfordern, kommt noch das Bundesamt für Strahlenschutz ins Spiel.2 Ein zusätzlicher Stolperstein sind zudem die Vertragsverhandlungen zwischen dem pharmazeutischen Unternehmen, das die Studie durchführen möchte, und den Studienzentren. In Deutschland dauert das laut vfa im Schnitt 200 Tage. In anderen Ländern braucht es dafür nur ein Drittel der Zeit. In Frankreich und Spanien geben die Arzneimittelgesetze dazu etwa Musterverträge vor.2
Alles in allem sorgt das dafür, dass Deutschland - einstmals weltweit auf Platz 2 bei klinischen Studien - mittlerweile auf den sechsten Platz zurückgefallen ist. Tendenz weiter fallend.2 Zudem machen umständliche Regulierung und überbordende Bürokratie, z.B. bei Anlagen- und Genehmigungsverfahren, eine im internationalen Vergleich hohe Steuerbelastung, zum Teil mangelhafte Infrastruktur, insbesondere in den Bereichen Energie, Digitalisierung und Datenzugang, aber auch eine hohe Inflation bei zugleich regulierten Preisen sowie Lockerungen beim Patentschutz, den Unternehmen hierzulande das Leben schwer.3
Zurück an die Spitze: Rahmenbedingungen müssen stimmen
Hinzu kommt eine in die Jahre gekommene frühe Nutzenbewertung, die in Deutschland regelt, welchen Erstattungsbetrag ein neues Arzneimittel erhält. Sie kann neue Technologien und den rasanten medizinischen Fortschritt kaum noch abbilden. Aus formalen Gründen heißt es deshalb immer häufiger: Kein Zusatznutzen nachweisbar, kein angemessener Erstattungsbetrag für jahrelange, oft milliardenschwere Forschung.4 Ein System, das Innovationen und Neuentwicklungen bewertet, muss sich auch selbst stetig weiterentwickeln. Diese Weiterentwicklung hat nicht stattgefunden. Neue Studienkonzepte, neue Möglichkeiten zur Auswertung von Versorgungsdaten und völlig neue Wirkansätze, etwa Gentherapien oder immer personalisiertere Arzneimittel lassen sich mit zum Teil jahrzehntealten Maßstäben nicht mehr bewerten. Die Folge: Innovative Therapien verschwinden vom Markt oder kommen erst gar nicht in die Versorgung.
Während andere Staaten in den letzten Jahren konsequent daran gearbeitet haben, die Rahmenbedingungen für (klinische) Forschung und die industrielle Gesundheitswirtschaft insgesamt zu verbessern, hat sich Deutschland auf dem Status quo ausgeruht.
Pharmastrategie birgt Chancen - bei konsequenter Umsetzung!
Das könnte sich nun ändern. Denn mittlerweile hat die Bundesregierung erkannt, dass bessere Rahmenbedingungen zwingend erforderlich sind, damit Deutschland zukünftig bei Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie wieder ganz vorne mitspielt. Dazu wurde bereits Ende vergangenen Jahres die Nationale Pharmastrategie auf den Weg gebracht. Das erklärte Ziel: die Rahmenbedingungen für die Herstellung und Entwicklung von Arzneimitteln verbessern, die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben, Anreize für die Ansiedlung von Produktionsstätten in Deutschland setzen und Innovationsprojekte der Pharmaindustrie fördern.
Die Ideen und Ansätze der Pharmastrategie sind vielversprechend und könnten dafür sorgen, das wir Wertschöpfung und Arbeitskräfte im Land halten und ausbauen, bei internationaler Spitzenforschung am Ball bleiben und die Versorgung auch in weltpolitisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten sicherstellen können. Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist innovationsstark und investitionsbereit. Allein Roche hat im vergangenen Jahr Investitionsprojekte an den deutschen Standorten im Gesamtwert von mehr als
Referenzen
[1] Kurzstudie: Wie wertschöpfungsintensiv und innovationsstark sind die deutschen Pharmaexporte?, PROGNOS (2023)
[2] vfa, Deutschland-Tempo statt Bürokratie-Trägheit, Positionspapier (2023)
[3] ZEW, Innovationsindikator BDI (2023)
[4] Frühe Nutzenbewertung nach AMNOG und Auswirkungen auf die Vertragsärzte, Arzneiverordnung in der Praxis, Ausgabe 1/2016; Arzneimittelkommisssion der deutschen Ärzteschaft (AKDAE)
Ansprechpartner
Dr. Tobias Hackmann
Excellence Lead Industrielle Gesundheitswirtschaft
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