Anfang des 20. Jahrhunderts mangelte es Medizinern und Pharmakologen sicher nicht an Wissen über die Wirksamkeit natürlicher Substanzen. Der Schritt von der Pflanze zum verlässlichen Arzneimittel war jedoch oft zu groß. Das sollte sich 1904 ändern: In diesem Jahr setzte Roche mit seinem „Doppelextraktionsverfahren“ weltweit Standards in der Medikamentenherstellung.

Wenn es so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Landschaftsbauern und Kardiologen gibt, dann ist es wahrscheinlich der Fingerhut. Entsprechend in Szene gesetzt, macht der Rachenblütler jede Wiese und jeden Waldrand zur Augenweide. Angemessen dosiert lässt er so manches schwache Herz höherschlagen – oder bringt es aus zu großer Höhe wieder in den richtigen Takt.

Anfang des 20. Jahrhunderts war der medizinische Mehrwert der hochgiftigen Pflanze längst bekannt. Insbesondere dem Pharmakologen Dr. Max Cloëtta von der Universität Zürich. Er widmete sich der Digitalis, so die lateinische Bezeichnung des Fingerhutes, sogar schwerpunktmäßig. Cloëtta wollte die Extrakte der Pflanze für einen breiten Einsatz am Patienten nutzbar machen. Ein durchaus ambitioniertes Vorhaben: Zu stark hing die Wirkung von Wetter und Jahrgang ab.

Dabei wäre der Faktor Natur eher unwesentlich gewesen, hätte Cloëtta die Glyokoside des Fingerhuts in hoher Menge und Reinheit extrahieren können. In der Realität dominierten allerdings sogenannte diskontinuierliche Extraktionsverfahren: Die Glykoside, Zucker-Alkohol-Verbindungen, ließen sich nur in Etappen sowie eher dürftiger Ausbeute herausziehen. Um die Reinheit war es ebenfalls nicht gut bestellt.

Cloëtta hatte zwar klare Vorstellungen von der Anwendung und Wirkung seines Herzmedikaments, es fehlte jedoch das Know-how, um dessen Grundsubstanz verlässlich gewinnen zu können. Bis zum Jahr 1904, als Cloëtta auf Emil Barell und Carl Schaerges von F. Hoffmann-La Roche & Co. traf.

Barell, damals Roche-Werksleiter in Grenzach, hatte bereits um 1900 das Verfahren der kontinuierlichen Doppelextraktion entwickelt. Nun sollte es Cloëttas Idee zugutekommen: Durch das Verfahren gelang es, dem Fingerhut Glykoside in für damalige Verhältnisse außerordentlich hoher Reinheit sowie Menge zu entziehen.

Was unternehmensintern auch als „Auszirkulieren“ bekannt war, schuf Glykoside in standardisierter Form, die dadurch in ihrer Wirksamkeit keinerlei Schwankungen mehr unterlagen. Der Weg für Cloëttas Innovation war geebnet. Roche brachte das finale Produkt „Digalen“ in Windeseile zur Marktreife.

Die Absatzerwartung von Roche-Forschungsleiter Carl Schaerges war zunächst eher konservativ, wie der Schweizer Historiker Hans-Conrad Peyer in seinem Buch „Roche - Geschichte eines Unternehmens 1896-1996“ festhält: „Schaerges schätzte, man werde [...] im besten Fall 500 Fläschchen pro Tag verkaufen, doch wurde diese Zahl schon 1907 und in der Folge immer weiter übertroffen.“

In der Folge – das bedeutete letztlich mehr als ein halbes Jahrhundert. Digalen wurde weltweit zum Blockbuster, sicherte Roche wissenschaftlich fundierte Anerkennung und sollte erst 1964 aus den Apotheken verschwinden.

Als Roche das Wissen über sein Doppelextraktionsverfahren mit Cloëtta teilte, spielte wohl auch der Wunsch nach besseren Arzneimitteltests eine zentrale Rolle. Jedenfalls betont Peyer, dass sie in Grenzach erkannt hatten, „wie gering die Möglichkeiten für eine pharmakologische Prüfung neuer Arzneimittel waren“ – weshalb Roche „noch mehr als bisher die Mitarbeit von Universitäten und Kliniken“ gesucht habe.

Seinen gemeinsamen Weg mit Cloëtta ging das Unternehmen noch lange weiter, die Verdienste des Universitätsprofessors reichten von Ideen für neue Arzneimittel über Prüfmechanismen bis hin zur wirtschaftlichen Beratung. Im Grunde war diese Vertiefung der Zusammenarbeit eine logische Entwicklung.

An „diskontinuierlichen“ Prozessen hatte Roche schließlich schon längst kein Interesse mehr.

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